Dienstag, 7. Juli 2009

Wir sind dann mal weg! - Unsere Erfahrungen auf dem Jakobsweg


TR - Die Tage vor der Abfahrt war ich aufgeregt wie vor keiner Reise zuvor. Das, was dieses Jahr als „Jahresurlaub“ anstand, war kein richtiger Urlaub. Wir betraten Neuland. Der Camino de Santiago, der Jakobsweg, ist keine Reise im konventionellen Sinn. Es ist eine Reise in eine andere Welt.

Diese Reise begann ohne stundenlange Flüge, Jet-Lag und eine völlig übermüdete Ankunft in einer fremden Kultur. Diesmal war alles anders: In wenigen Stunden Zugfahrt hatte ich bereits den Startpunkt meiner Reise erreicht: den ausgestorbenen Bahnhof in Logroño, Hauptstadt der Region La Rioja, welches Anbaugebiet des berühmten spanischen Weines ist. 636 km zu Fuß lagen vor mir, ich konnte es kaum glauben, was ich mir da vorgenommen hatte.
Jörg war bereits seit einer Woche unterwegs. Er hatte den Jakobsweg in den Pyrenäen im kleinen französischen Ort Saint-Jean-Pied-de Port begonnen.

Ab jetzt hieß es auch für mich jeden Tag gehen, gehen und gehen. Mein Rucksack war mit anfangs knapp 10 kg inkl. Wasser viel zu schwer. Bei meinem Körpergewicht wäre gut die Hälfte ideal gewesen. Aber was hätte ich weglassen sollen? Jeden Morgen zwickte und zwackte etwas anderes. Verspannte Rückenmuskulatur, rote Druckstellen vom Tragesystem des Rucksacks, ein Ziehen der Sehne am linken Fuß, brennende Ballen. Wir steigerten jeden Tag die Kilometerzahl, 13km, 16km, 21km, 23km...

Etwa 4 Tage brauchte ich, um mich „warmzulaufen“. Bis es einen gewissen Trott gab und sich der Frust ein wenig legte, bis ich mich ins „Pilgerleben“ eingefunden hatte. Dieses Dasein, das völlig basic ist. Damit meine ich nicht die einfache Unterkunft in den Herbergen oder die Reise mit nur 2 Sets Klamotten zum Wechseln, beides ist in unseren Urlauben ja normal. Es ist vielmehr der reduzierte Tagesablauf. Kein Anschauen aller Sehenswürdigkeiten, keine Suche nach besonderen Ereignissen, die man verpassen könnte, kein Organisieren des Transports von Ort A nach B, keine Unterkunftssuche. Als Pilger gibt es keinen Sightseeing- und Organisations-„Stress“. Alles ist ganz simpel: Aufstehen, frühstücken, wandern, Pause, wandern, Pause, wandern, beziehen der Herberge, duschen, Wäsche waschen, Austausch mit anderen Pilgern, Proviant für den nächsten Tag einkaufen, falls Zeit ist Tagebuch schreiben, essen, schlafen. Tag für Tag der gleiche Ablauf.


Ich sehnte mich nach einem exotischen Land, wo ich abends berauscht bin von den geballten, fremdartigen Eindrücken des Tages. Ich fragte mich, warum ich diesen Weg eigentlich ginge, wieso ich fast vier Wochen meines kostbaren Urlaubs opferte. Die Antworten kamen. Erstmalig beim Pilgersegen in dem kleinen Ort Belorado, und auch danach immer wieder: In unbeschreiblichen, emotionalen Momenten auf dem Weg, wenn ich die Lebensgeschichten anderer Pilger hörte, in Gottesdiensten, oder manchmal in Gesprächen mit Hospitaleros, den ehrenamtlichen Herbergsvätern.


Der Weg selber bietet nicht viel. Aber wahrscheinlich ist es genau diese Monotonie, die erforderlich ist, um eine innere Ruhe zu bekommen und sich öffnen zu können für diese andere Welt des Caminos. Diese zwischenmenschliche, emotionale, spirituelle oder vielleicht sogar transzendente Welt. Nie zuvor habe ich in meinem Leben so viel Emotionen gesehen und gespürt, nie zuvor so viele Leute gesehen, die feuchte Augen bekamen. Der Weg nimmt und gibt 1000-fach zurück. Der Weg ist das Ziel.

Am fantastischsten ist die Ankunft in Santiago. Die Emotionen, die jeder, der hunderte von Kilometern gelaufen ist, spürt, sind außergewöhnlich und für jeden individuell. Für uns war die Überschreitung der Stadtgrenze ein befreiendes Hochgefühl, doch richtig angekommen sind wir erst am nächsten Tag in der Kirche. Die dann erlebten Gefühle wiegen allen Schmerz und Frust der letzten Wochen auf. Dieses Gefühl, das jeder zwar individuell erlebt, aber jeden mit einer unglaublichen Wucht trifft, ist unbeschreiblich und macht den Weg zu etwas Einzigartigem. Nun können wir verstehen, warum so viele Menschen den Weg nicht nur einmal laufen, sondern immer wieder. Auch für uns wird dies sicher nicht der letzte Camino gewesen sein!

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